Ich bekomme einen Anruf eines Mitarbeiters des MdK (Ministerium für Kultur):
„Wenn du Eberhard überzeugst, seine Texte in Zukunft von einem Mentor (er nennt einen Namen) schreiben zu lassen bzw. sich betreuen zu lassen, kannst du dir eine Reise ins Ausland aussuchen“. Er hört sich sehr wichtig an. Auf meine verdutzte Nachfrage, wohin man denn so reisen könne, bleibt eigentlich nur das damalige Jugoslawien. „Ägypen ginge vielleicht auch noch“, sagt er, „aber im Moment nicht zu empfehlen“

Die Vorgeschichte:
Den Bonzen ging der Spaß zu weit. Die Menschen lieben den Cohrs. Er spricht aus, was die Menschen denken. Er ist ein „Frustventil“. Und seine Witze werden immer regimekritischer. Verbieten? Schlecht. Das würde aus dem Künstler einen Märtyrer machen. Aber umbiegen, verbiegen! Der angebotene Mentor löst helle Empörung bei meinem Mann aus. „Dieser unbegabte Trottel. Meine Texte schreiben? Die wollen mich amputieren. Nie!“.wettert er. Eberhard bekommt Angebote für Gastspiele in der Bundesrepublik, Österreich und der Schweiz, u.a. ein Gastspiel zusammen mit Frank Schöbel. Der Antrag auf Ausreise in diese Länder wird abgelehnt. Punkt, basta! Mein Mann wird in der Künstleragentur, die für solche Gastspiele zuständig ist, vorstellig.
„Warum lassen Sie jeden beliebigen Künstler im Ausland arbeiten und mich nicht? Ich bin verheiratet, habe einen kleinen Sohn. Mir geht es doch gut. Glauben Sie vielleicht, ich werde nicht zurückkommen? Erklären Sie mir das.“ - „Wir müssen Ihnen gar nichts erklären“. So wird ihm barsch beschieden. Aus, Ende!

Nach diesem „Gespräch“ wird mein Mann sehr einsilbig. Ich bin auch traurig. Hatten wir doch schon Pläne und Wünsche. Was wollte er so alles mitbringen. Der Traum ist aus. Ohne daß ich es bemerke, kreisen Eberhards Gedanken nur noch um das Eine: Flucht. Man hat übersehen (oder nicht?), daß wir ein Visum zur Einreise nach West-Berlin haben. Einmal im Jahr dürfen wir für die Reichsbahner in West-Berlin auftreten. (Damals gehörte die S-Bahn in ganz Berlin der DDR). Voller Vorfreude auf ein paar Stunden Ku-Damm mache ich mir auch keine Gedanken, daß mein Mann seine Koffer selbst packt. “Alles Bühnenklamotten, ich muß ja von Berlin aus gleich weiter nach Dresden“. Alles ganz normal. Unseren Pass haben wir schon in der Tasche und können früh über die Grenze. In West-Berlin trennen wir uns zum Einkaufen, um uns später mit Freunden zum Essen wieder zu treffen. Die Probe für die Show sollte eine Stunde vor Beginn stattfinden. Viel Zeit also.

Zum vereinbarten Treffpunkt erscheinen nur unsere Freunde. Ratlos stehen wir herum und warten. Nach zwei Stunden bekomme ich Panik. Wieso ist dieser stets überpünktliche Mann nicht da? Unfall? Oder überfallen? Ich stehe an einer großen Kreuzung. Es ist schon dunkel. Die vielen Autos. Sie stehen wie Raubtiere auf dem Sprung an der Ampel. Schon bei „Gelb“geben sie Gas.Und wie! Da legt man bei uns erst langsam den Gang ein, denke ich. Nun komm doch endlich! Immer noch glaube ich, daß er gleich auf den Parkplatz fährt und uns mit einem Lachen seine Verspätung erklärt. „Also, das glaubt ihr nicht – ich habe mich verfahren“ oder so was ähnliches. Ich muß zum Veranstaltungsort. Vielleicht ist er ja schon dort. Fehlanzeige. Man weiß dort schon Bescheid. Die anderen Künstler sind verunsichert und still. Niemand spricht mit mir. Die Kollegen vermeiden jeden Augenkontakt. Die Angst ist spürbar. Nur nichts damit zu tun haben. Die Herren der Künstleragentur und der Stasi sind schnell vor Ort. „Wir wissen schon, wo Ihr Mann ist. Sie brauchen uns nichts zu erzählen. Er hat Republikflucht begangen. Das wird ein Nachspiel für Sie geben“. Mit zitternden Händen packe ich meine Bühnensachen zusammen. Ich muß meinen Paß abgeben. „Machen Sie kein Aufsehen und kommen Sie mit.“ Der Stasi-Volvo steht mit laufendem Motor startbereit. Ohne anzuhalten, fahren wir über die Grenze in den Osten. Die Herren bringen mich in unsere Wohnung im Stadtteil Pankow. Dort macht man es sich gemütlich. Ich werde verhört. Das Telefon klingelt. „Kein Wort über uns“, zischt einer der Männer. Unsere Freunde haben Krankenhäuser und die Polizei angerufen. Ohne Erfolg. Eberhard bleibt verschwunden. Die Freunde merken an meinen Antworten, daß ich nicht allein bin. Sie versprechen noch, sich weiter zu kümmern. Dann darf ich wieder die Gesellschaft der Herren (die sich natürlich nicht vorgestellt haben) genießen. Ich erzähle freimütig, was ich in West-Berlin erlebt habe. Man glaubt mir kein Wort und sagt das auch. Immer wieder die gleichen Fragen: „Wann hat Ihr Mann das erste Mal von seinen Plänen gesprochen, die DDR zu verlassen? Was sollte Ihr Part sein? Wer hat ihm noch geholfen? Wer wusste noch davon?“ Und so weiter, und so weiter---.Bevor sie gehen, werde ich noch genau belehrt, wie ich mich zu verhalten habe. Und: „Wir waren nie hier“.

Am nächsten Morgen fahre ich nach Diensdorf zu unserem Sohn, der bei einer Nachbarin ist.

Der Dienstplan für meine Überwachung steht offensichtlich. Schon auf der Fahrt nach Hause bin ich nicht mehr allein. Unsere Straße wird bewacht. Eine andere kleine Zufahrt wird mit einem extra zu diesem Zweck gefällten Baum blockiert. Ein „guter Nachbar“ stellt sein Wochenendhaus für einige Herren zur Verfügung.

Das Dorf weiß Bescheid. Die Kinder erzählen: „Wenn wir mal groß sind, werden wir mal sowas wie die Bewacher von Frau Cohrs. Die sitzen den ganzen Tag im Auto, essen, trinken und rauchen“. So kann ich unbesorgt schlafen bei so viel Fürsorge. Die nächsten Tage werden zum Albtraum. Jeder, der nicht im Uferweg wohnt, muß sich ausweisen und den Grund seines Besuches angeben. Da bleiben nur wenige Freunde.

Dafür habe ich Verständnis. Christopher fragt immer wieder nach seinem Papa. Er ist es gewohnt, viel mit mir allein zu sein. Er lässt sich leicht beruhigen.

Was soll ich nur tun? Ich habe Angst. Dann fallen sie eines morgens um 7.oo ein. Der Fahrer eines Kleintransporters blockiert mit dem Auto das Tor. Ein „Staatsanwalt“ namens Weiß stellt sich vor. Er hätte auch Schwarz, Rot, Müller oder Lehmann heißen können. In dieser Branche trägt man in der DDR Künstlernamen.

Acht Männer nehmen unser Häuschen in Besitz. Mit zitterden Knien bringe ich Christopher zu einer Nachbarin, begleitet von einem der Männer. Sie durchwühlen alles. Schränke. Wäsche, Papiere, Manuskripte und was man sonst noch für wichtig erachtet und verstaut alles im Transporter. Sogar Christophers Micky-Maus Hefte und Postkarten aus aller Welt.

Wie zufällig unterhält man sich mit mir. Nicht mal unfreundlich. Ich kann ihnen nichts sagen, ich verstehe es selbst nicht. Mir ist übel vor Angst. Ich muß mich übergeben. Endlich ziehen sie ab.Einen Tag später bekomme ich wieder Besuch. Ein Mensch in Zivil fordert mich auf, am nächsten Morgen in der Zweigstelle der Staatssicherheit zu erscheinen. „Pünktlich um acht“, sagt er, „und es wird einige Zeit in Anspruch nehmen, richten Sie sich darauf ein“. Dann verschwindet er wieder. Ich habe keine Wahl. Wen könnte ich nur um Hilfe bitten? Mir fällt ein Anwalt ein, mit dem mein Mann einmal zu tun hatte. Jetzt hat er jedoch angeblich keine Ahnung, wer Eberhard Cohrs ist und im übrigen sowieso hat er keine Zeit für mich. Ich hätte es wissen müssen. Längst wird mein Telefon überwacht. Die Nachricht von der Flucht des Cohrs hat längst die Runde gemacht. Das „Buschtelefon“ funktioniert. Frank Schöbel kommt nach Diensdorf. Er ist besorgt und befragt mich nach den genauen Hintergründen der „Flucht“ und Aussagen meines Mannes, was ihn betrifft.

Ich suche Freunde auf. Dem „Freund“ ist es peinlich, daß ich ins Haus komme. Er bittet mich um Verständnis. Sein Posten usw. Aber er nennt mir einen Anwalt, der bei seiner Scheidung seine Frau vertreten hat. „Ein cleverer Bursche“, meint er. Dieser Mann erweist sich als große Hilfe. „Ich kann nicht sehr viel für Sie tun, aber ich möchte versuchen, Ihnen zu helfen. Ich kenne Ihren Mann und verehre ihn sehr.“ Er erklärt mir, was man warscheinlich von mir will. Ein Eingeständnis zur „Fluchthilfe“. Wenn ich verurteilt werde, heißt das Zuchthaus. „Wenn man Sie festnimmt, verlangen Sie Papier und Bleistift und formulieren Sie Hafteinspruch. Vielleicht werde ich dann informiert.“ Bei den Verhören darf ich schweigen. Bevor ich am nächsten Tag zum Verhör nach Fürstenwalde fahre, bringe ich Christopher in den Kindergarten. Die Kindergärtnerin sieht mir an , wie schlecht es mir geht. Ich erzähle ihr kurz, was ich tun muß. „Was geschieht mit meinem Kind, wenn die Genossen mich gleich dabehalten?“ - “Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Cohrs, an mir kommt so schnell keiner vorbei“. Diese runde Frau mit den freundlichen Augen! Ich hätte sie am liebsten in die Arme genommen. Sicher hätte sie keine Chance gegen die Staatsgewalt. Zum Glück bekommt mein Sohn von alledem nichts mit. Er ist schon mit seinen Spielfreunden beschäftigt. “Tschüß, Mama, bis heute nachmittag!“ Ich schließe ihn in meine Arme und mache mich mit schwerem Herzen auf den Weg.

Das Vernehmungszimmer ist karg eingerichtet und die Fenster sind vergittert. Ein Tisch, zwei Stühle, ein Schreibmaschinentisch nebst Schreibkraft mit blödem Blick davor, Honecker an der Wand.

Ein junger Mann in Zivil begrüßt mich, stellt sich aber nicht vor. „Sowas“, denke ich, „hat man hier nicht nötig.“ Er trägt einen hellen Anzug, rosa Hemd mit heller Krawatte und blankgeputzte Schuhe. Er wirkt überaus unsicher. Dann beginnt er zu fragen. Ich antworte nicht. Ich spreche vom Wetter. Die Schreibkraft starrt vor sich hin und manchmal zu mir. „Sie hat eine schlechte Haltung“, denke ich. „Eines Tages wird sie Rückenprobleme bekommen.“ Die Stunden schleichen dahin. Ab und zu klingelt das Telefon. Dann verschwindet der junge Mann. Wenn er nach einiger Zeit zurückkommt, sieht er gar nicht mehr so adrett aus. Die Krawatte ist etwas schief, ein Kragenknopf ist offen und die Haare liegen auch nicht mehr so ordentlich. „Warm ist es hier“, meine ich. Er antwortet nicht. “Haben Sie Hunger?“ - “Ja“, lüge ich. Dann bekomme ich eine große Portion Erbsensuppe. Nach dem Mahl geht das gleiche Spiel weiter. Um 16 Uhr werde ich entlassen. „Endlich!“ denke ich, „geschafft!“ Denkste! „Morgen früh pünktlich“ gibt man mir auf den Weg. Zu Hause fällt mir die Erbsensuppe aus dem Gesicht.
Ich gehe mit Christopher im Wald spazieren. Wie immer mit Begleitung. Warum tust du mir das an, Spatze? Warum meldest du dich nicht? Ich weiß nicht, wie lange ich das aushalte. Er muß es doch wissen.

Meine Gedanken sind vollkommen durcheinander. Während meiner Abwesenheit wurde die Terrassentür aufgebrochen. Nun bin ich „verwanzt“. Nachts ruft mein Mann endlich an. Er kann mir gerade sagen, wo er ist und „Matze, geh zur Ständigen Vertretung der Bundesrepublik......“ , dann werden wir getrennt. Ich heule endlich wie ein Schloßhund, bis ich vor Erschöpfung einschlafe.







Ein paar mutige Freunde besuchen mich. Wir gehen im Wald spazieren. Selbst da sind wir nicht allein. „Sturzbetrunken“ torkelt ein Mann um uns herum. Oskarreif! Wir müssen lachen. Meine Begleiter sind bei mir, als ich nach Berlin fahre. Vor dem Haus der Ständigen Vertretung werden sie abgelöst Und die frische Besatzung folgt mir in den Warteraum. „Dürfen die Genossen eigentlich Westmagazine lesen?“ frage ich mich. Der Sachbearbeiter, der mich empfängt, gibt mir zu verstehen, daß wir nicht unter vier Augen und Ohren sind. Nicht sonderlich engagiert zeigt er mir einige wenige Möglichkeiten auf.
„Aber im Grunde können wir nichts für Sie tun“, verabschiedet er mich.

Ich möchte die Ausreise. Rechtsanwalt Vogel! Das ist es! „Zu meinem Bedauern muß ich Ihnen mitteilen, daß ich in Ihrer Sache nichts für Sie tun kann“. Bla,bla und bla. Diese Mühe war umsonst.

Eine Freundin kommt fast jeden Tag, um mir beizustehen. Ich bin ihr so dankbar. Alles erzähle ich ihr. Auch später nach meiner Ausreise schreibt sie mir herzliche Briefe. Sie möchte selbst gern ausreisen und fragt nach Möglichkeiten. Nach der Wende kann ich in meinen Stasi-Akten lesen, daß diese „Freundin“ jedes Gespräch, jeden Anruf brühwarm als „IM“ ausgeplaudert hat.

Zurück. „Wir wollen mit Ihren Eltern sprechen“ wird mir mitgeteilt. Das auch noch. Mein Vater, schwer herzkrank, wäre ein solches Gespräch eine große Belastung.

Mir fällt ein, daß meine Mutter sowieso kommen wollte. „Gut, dann sprechen wir mit Ihrer Mutter“. Sie wird ins Gästehäuschen gebeten und zum Platznehmen aufgefordert. Meine Mutter konnte die ganze Nacht nicht schlafen, so aufgeregt war sie. Alles umsonst.Nach ein paar Fragen über ihren Schwiegersohn und ihr Wissen um die „Straftat“ wird sie gnädig entlassen.

Meine Verhöre fallen nicht zur Zufriedenheit aus. Folgerichtig will man die Zügel anziehen. Ein Anruf – kein Name, kein „guten Tag“ nur „Sie erscheinen morgen früh bei der Staatsanwaltschaft in Frankfurt/Oder!“ – „Wer sind Sie?“ – „Das geht Sie gar nichts an!“ und „wir können auch anders, denken Sie mal an Ihren Sohn!“ Eindeutig, diese Warnung. Ich habe nur noch Angst. Als es dunkel ist, fahre ich zu meinem Anwalt. Ich berichte ihm. Er schaut besorgt. Dann hat er eine Idee: ein kurzes Telefonat, und 20 Minuten später lerne ich einen Arzt kennen. Wir gehen spazieren. Meine „Begleiter“ sind irritiert. Sie folgen uns im Auto, keine leichte Aufgabe im Wald. Dr. H. erzählt mir, daß sein Sohn durch einen Tunnel von Ost- nach Westberlin beflüchtet ist. Seine Frau und er durften erfahren, was „Sippenhaft“ ist. Er gibt mir einen Tipp für die „Einladung“ beim Staatsanwalt. – Das Gerichtsgebäude in Frankfurt/Oder erscheint mir riesengroß. Der Raum, in den ich geführt werde, auch. Ein Bild von Honecker: sein Mund lächelt, die Augen nicht. Fahnen an den Wänden. In der äußersten Ecke des Raumes steht ein Stuhl für mich. Drei Männer kommen in den Raum: ein ziemlich großer, ein dicker und ein sehr blasser. Gut für dieBühne, „Trio Lustig oder so“ denke ich. Sie sind aber nicht lustig. Wie Richter und Schöffen reihen sie sich an einem langen Tisch auf. „Wir sind doch keine Unmenschen“ flötet der Dicke. „Sie wollen doch sicher, daß Ihr Mann zuriückkommt.“ – „Ja“, antworte ich zu schnell. – „Und warum wollen Sie dann die Ausreise?“ – „Woher wissen Sie .....?“ – „Antworten Sie“ bellt der Große. – „Ja, aber lieber wäre es mir .....“ – „Und warum kooperieren Sie nicht mit uns?“ fällt er mir ins Wort. Der Blasse: „Haben Sie schon mal über die Folgen Ihrer Haltung nachgedacht? Wir glauben Ihnen kein Wort“ bescheidet er mir. Der Dicke schaut aus dem Fenster, fast sanft, wie nebenbei sagt er „es gibt so viele Paare in der DDR, die sich ein Kind wünschen!“ Christopher!! Mir wird schlecht. Ich brauche kein Theater mehr zu spielen, wie ich es vorhatte. Ich rutsche vom Stuhl. Man bringt eine Trage. Ein schnell herbeigerufener Arzt untersucht mich kurz, dann spricht er leise mit den Männern. „Sie werden jetzt nach Hause gefahren, aber glauben Sie nicht, daß diese Sache für Sie vorbei ist. Wir melden uns.“

Meine Post erhalte ich mit Verzögerung, weil sie noch von dritter Stelle gelesen wird – ganz offiziell, mit Stempel und Datum. Mein Mann schreibt mir, daß ein Bekannter am 8. April – unserem Hochzeitstag – nach Ostberlin kommt, um mich zu treffen.

Umgeben von meinen „ständigen Begleitern“ warte ich vor dem Friedrichstadtpalast. Einige Mitarbeiter und Künstler gehen schnell an mir vorbei und schauen weg, als sie mich sehen. Ich denke an die vielen umjubelten Vorstellungen in diesem Haus. An der Seite meines Mannes durfte ich auf diesen „legendären Brettern“ spielen. Ob die haushohen Reklametafeln „Hallo, Eberhard“ wohl noch in der Werkstatt sind? Plötzlich kommt ein Bekannter aus der Direktion auf mich zu. „Ich muß Ihnen sagen, daß ich nicht allein bin“ und deute auf meine „Freunde“ – eine Frau und vier Männer, die sich völlig ungeniert um mich gruppiert haben. „Das ist mir egal“ sagt der Genosse. „Ich möchte Ihnen sagen, wie leid mir alles tut. Der ‚Palast‘ ohne Eberhard – nicht vorzustellen! Da haben die Genossen einen großen Fehler gemacht, so einen Mann aus dem Land zu graulen!“ Er wünscht mir alles Gute und verschwindet im Bühneneingang. Endlich kommt der junge Mann aus dem Ein- und Ausreisegebäude der S-Bahn fürWestberliner. „Palast der Tränen“ heißt das Gebäude im Volksmund. Der junge Mann hält ein Foto von mir in der Hand. „Damit ich Sie erkenne“ sagt er verlegen. Mein Eberhard hatte ihm einen großen Rosenstrauß für mich mitgegeben. Bei der Kontrolle wurde er gefragt, wo er denn mit diesem Strauß hin wolle und für wen der sei. „Och, der ist für meine Freundin“. – „So, und wie heißt die?“ – „Das möchte ich nicht sagen!“ – Nun, dann müssen Sie die Blumen hier lassen!“ – Der Grenzer deutete auf einen Papierkorb. – „Am liebsten wäre ich umgekehrt. Es tut mir so leid!“ – Mir auch! Wir gehen am Schiffbauer-Damm in Obhut der Handtaschenträger (für die Mikrofone) spazieren. Der junge Mann erzählt von Eberhard, wie sehr er uns liebt und daß er möchte, daß ich die Familienzusammenführung beantragen solle.

Wider Erwarten geht jetzt alles sehr schnell. Ich werde aufgefordert, einen Antrag auf Ausreise zu stellen. Jetzt will man mich loswerden! – „Zwei Seiten für die Begründung sind uns zu wenig, alles noch einmal“ – Also vier Seiten. Na gut. Nach der Abgabe bekomme ich keine Antwort. Dann ein Anruf: „Machen Sie eine Liste der Dinge, die Ihnen persönlich gehören, d.h. die Ihnen schon vor Ihrer Ehe gehört haben. Wir werden das genau kontrollieren. Keine Möbel, keinen Hausrat, keine Bilder! Auch keine Haustiere!“ – Was mache ich mit Hund und Katze? – Meine Mutter nimmt meine Katze Simba, ein Arzt aus dem Armeekrankenhaus möchte meinen Carlos haben, einen wunderschönen Riesenschnauzer. Er wartet, bis es dunkel ist, dann schaut er sich den Hund an. Er möchte nicht gesehen werden – schon gar nicht in Uniform. Hund und neues Herrchen sind sofort voneinander begeistert. Mir tut das Herz weh, aber ich weiß den Hund in guten Händen. „Morgen abend hole ich Carlos ab, und ich zeige Ihnen, wo er leben wird.“ Als ich mich von meinem Hund verabschiede, springt der gute Doc über den Zaun zum Nachbarn und rupft noch schnell ein paar Tulpen für mich ab. „Alles Gute für Sie. Ihr Hund wird es gut haben – aber bitte keine Post!“ Ich möchte mich noch von seiner Frau verabschieden, aber sie legt keinen Wert darauf.

Ein Spediteur und sein Kollege helfen mir und vergleichen die Liste pingelig. Abends stehen Freunde und Nachbarn vor der Tür. Schweigend nehmen sie mich in die Arme und verschwinden. Ich weiß, daß „es“ bald losgeht. Auf dem Amt für Reiseangelegenheiten erscheine ich pünktlich um 8 Uhr. Der Sachbearbeiter (ohne Namen) bekommt rote Ohren und greift zum Telefon. „Genosse, Frau Cohrs ist da!“ Dann verschwindet er. Die Sekretärin, die nicht auf meinen Gruß geantwortet hat, steht plötzlich auf und drückt mir die Hand. „Ich wünsche Ihrer Familie und Ihnen alles Gute. Schade! .......“ weiter kommt sie nicht. Der Rotohrenmensch und der Genosse betreten den Raum. Mit wichtiger Miene richtet der Genosse das Wort an mich. „Ausnahmsweise“ verkündet er, „wird Ihnen und Ihrem Sohn die Ausreise nach Berlin West gestattet.“ Er überreicht mir die langersehnte „Ausbürgerung aus der Deutschen Demokratischen Republik“. Er schaut mich forschend an. Ich tue ihm keinen Gefallen und reagiere überhaupt nicht. Enttäuscht zieht er sein Jackett mit dem Parteiabzeichen gerade. „In 48 Stunden müssen Sie den Boden der DDR verlassen haben!“ Er müßte eigentlich hören, wie mein Herz klopft. „Kann ich gehen?“ – „Ja.“ Grußlos verlasse ich das Zimmer. Mein Sparbuch wird eingezogen und mein Konto gesperrt; im Gegenzug habe ich ein Schuldnerkonto zu eröffnen, um eventuell vorhandene Verbindlichkeiten zu begleichen. – „Wann fahren wir endlich zu Papa?“ fragt Christopher. Ich sage ihm, daß er nur noch zweimal schlafen muß. „Dann drücke ich Papa sooo doll!!“ kräht er begeistert und schlingt seine Arme um mich.

Am Morgen des 14. April verlasse ich unser Häuschen. Einige Sachen bringe ich in mein Auto (das ich erstaunlicherweise behalten darf). Noch einen Blick auf den See ..... Christopher sitzt schon seit einer Stunde mit seinem Teddy im Auto - als wenn ich ihn vergessen könnte! Am Grenzübergang von Ost- nach Westberlin werden wir gründlich gefilzt, sogar der Teddy wird geröngt. Vor dem letzten Schlagbaum muß ich mit laufenden Motor endlose Minuten warten, von den Wachtürmen herab mit Ferngläsern beäugt. Mein Mann steht seit zwei Stunden mit einem Blumenstrauß – ebenso beobachtet – auf der anderen Seite. Endlich! Ich falle fast aus dem Auto. Eberhard schließt mich in die Arme – Christopher zwischen uns.


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